Rede zur Eröffnung der Ausstellung Skulptur in Galerie Profil

Weimar . Juni - September 2009

Karien Vervoort -Thomas Lindner

Kleinplastik und Arbeiten auf Papier

 

Nun aber ist es endlich Zeit, auch auf die Werke Karien Vervoorts einzugehen. Das Geheimnis vieler Arbeiten liegt hier im Spiel mit der Maßstäblichkeit. Nehmen wir die Bronzeplastik „Ohne Titel“ – auch bei Karien Vervoort treffen wir übrigens auf viele Werke ohne Titel. Die Bronzeplastik „Ohne Titel“ von 2004 ist eigentlich einer Tischdecke abgeformt. Etwas stilisiert und ordentlich, symmetrisch arrangiert – aber die Form einer Tischdecke. Die erste Verfremdung entsteht durch eine Verkleinerung. In mehreren Vorgängerwerken aus dem Jahr 1993 finden wir dieselbe Form so stark verkleinert und multipliziert, daß die Assoziation Kuchenförmchen – vielleicht sogar Sandkastenspielzeug – unvermeidlich ist. Die zweite Verfremdung kommt also durch die Vervielfältigung der Form, in unserem Fall eine spiegelverkehrte Dopplung der Form, die dem Gesamtwerk eine weitere, nämlich eine horizontale Symmetrieachse verleiht (wenn ich richtig sehe, hat die Grundform zwölf vertikale Symmetrieachsen, nämlich jeweils durch zwei der zwölf Faltenbäuche und durch je zwei der zwölf Faltentäler, und durch die Dopplung auch eine horizontale). Die dritte Verfremdung kommt durch die Farbgebung von Äußerem Weiß und dunkler Bronze und dem tiefbordeauxfarbenen Inneren. Die Innenseite der gewesenen Tischdecke findet sich im Gesamtkomplex des Werkes also nicht nur zuoberst gekehrt, sondern auch noch farblich herausgehoben. Eine vierte Verfremdung entsteht aus dem Kontext der Tischdeckenform im Rahmen der ganzen Plastik. Wie Sie sehen, ruht die Bronze auf einem kleinen quadratischen Samtkissen (einem Dinkelkissen) auf. Das Kissen aber gehört zunächst einmal nur indirekt zur natürlichen Umgebung einer Tischdecke – nämlich nur insofern, als ein kleiner runder Beistelltisch oder Couchtisch sich gerne in der Nähe eines Sofas oder Sessels aufhält, auf welchem dann wohl ein kleines quadratisches Kissen liegen mag. Aus dieser indirekten Beziehung von Tischdecke und Sofakissen aber macht die Arbeit von Karien Vervoort eine beinahe intime, jedenfalls innerliche und direkte Beziehung. Sie sehen es: Die auffällige Farbgebung, die das Innere der Tischdecke ausmacht und betont, korrespondiert mit der Farbe des Kissens.

So, jetzt wäre das Kunstwerk erst mal annähernd beschrieben. Nun stellt sich natürlich die Frage, was es bedeuten soll? Was bedeuten die ordentlichen Falten in der Tischdecke eines kleinen runden Beistelltisches? Was bedeutet es, daß die Kreislinie in zwölf gleiche Teile – zwölf Faltenberge – eingeteilt ist? Was bedeutet die farbliche Abstimmung von Tischdecke und Kissen?

Ein Movens in der Arbeit von Karien Vervoort ist der eigene Blick – und die Blick-Richtung des Betrachters – auf den Menschen, auf das menschliche Maß und die Spuren des Menschen in der Welt der Dinge. Wir werden morgen anhand der Plastiken im Außenraum weitere Beispiele hierzu kennen lernen. Was unser konkretes Werk hier betrifft, so beleuchtet es natürlich das Wohnen. Das bürgerliche Wohnen. Das bürgerliche Wohnen zur Kaffeezeit. Der gesittete Aufenthalt in einem herausgeputzten Raum, in dem eine mächtige Standuhr die Sekunden in die Stille tropft. Das Wohnen also nicht im Haus, sondern, um mit Walter Benjamin zu sprechen, im Gehäuse. Walter Benjamin hat das in seinem Passagen-Werk hervorragend charakterisiert, ich lese ein kurzes Stückchen vor:

„Die Urform allen Wohnens ist das Dasein nicht im Haus sondern im Gehäuse. Dieses trägt den Abdruck seines Bewohners. Wohnung wird im extremsten Falle zum Gehäuse. Das neunzehnte Jahrhundert war wie kein anderes wohnsüchtig. Es begriff die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, daß man ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument mit allen Ersatzteilen in tiefe, meistens violette Sammethöhlen gebettet, daliegt. Für was nicht alles das neunzehnte Jahrhundert Gehäuse erfunden hat: für Taschenuhren, Pantoffeln, Eierbecher, Thermometer, Spielkarten – und in Ermangelung von Gehäusen Schoner, Läufer, Decken und Überzüge.“ (Walter Benjamin, Passagen-Werk, S. 291)

 

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar


Rede zur Eröffnung der Ausstellung

Skulptur . Weimar . Juni - September 2009

Karien Vervoort -Thomas Lindner


Sehr geehrte Damen und Herren,

das Spiel mit der Maßstäblichkeit hatte ich gestern Abend in der Galerie Profil als Geheimnis der Arbeiten Karien Vervoorts genannt. Wir hatten ein Kunstwerk gemeinsam betrachtet, das als ursprüngliche Abformung einer runden Tischdecke mit ihrem Faltenwurf mithilfe von Verfremdungseffekten wie der Verkleinerung, der Verdopplung und Spiegelung, der Farbgebung und einer spezifischen Kontextualisierung – die „Tischdecke“ ruht ja auf einem Sofakissen – den Blick auf die Ideale bürgerlichen Wohnens lenkt. Ich hatte gesagt, daß die Zurichtung der Welt durch den Menschen – oder die Spuren des Menschen in der Welt der Dinge – einen wichtiger Antrieb im Schaffen Karien Vervoorts darstellt. Und eben daher rührt auch ihre Sensibilität für die Maßstäbe der Dinge. „Der Tisch bringt die Erde auf unsere Arbeitshöhe“, sagt die Künstlerin selbst und verwendet in ihren Werken Schranktüren, überhaupt Türen, bringt Sehschlitze und scheinbare Durchgänge durch ihre Plastiken in unmöglichen Höhen an und baut Architekturmodelle, da das Haus als Gehäuse des Menschen natürlich das Maß des Menschen schlechthin in die Welt trägt.

 

Wenn ein Kunstwerk den Blick auf eine Sache lenken will, die unserer Natur entspricht oder uns zur zweiten Natur geworden ist, reicht es meist nicht, sie unkommentiert abzubilden. Da Karien Vervoort unseren Blick für das menschliche Maß und unsere eigene Zurichtung der Welt schärfen will, muß sie den Maßstab der Dinge verfremden. In der Irritation, die eine viel zu kleine Tür oder ein viel zu hoher Sehschlitz in uns auslöst, liegt das Potential unserer Erkenntnis. Wir kennen diesen Trick der Irritation aus dem Werk beispielsweise René Magrittes. So zeigt sein Ölgemälde „La perspective amoureuse“ eine durchbrochene Zimmertür, deren Öffnung den Blick auf ein Haus und einen Baum am Strand freigibt. Der Baum überwuchert das Haus seitlich, und – er ist eigentlich ein Blatt. Ein Blatt, das auf dem Stängel steht wie ein Baum auf seinem Stamm, und dessen Adern zum Geäst einer Laubbaumkrone werden. Wie wichtig u.a. dieses Bild für Karien Vervoort schon lange ist, zeigt der Titel einer Plastik, die in verschiedenen Varianten seit 1990 existiert. 

Wir haben ein Exemplar hier: La perspective amoureuse. Auslöser dieses Werks war ein mit kleinen Auftriebskörpern oder Schwimmern bestücktes, treibendes Fischernetz an der isländischen Küste (daher die Welle). Wie kommt dieses Werk zu seinem Namen? Außer der Küste, die auch bei Magritte zu ahnen ist, existiert keine inhaltliche Verbindung. Nun – eine inhaltliche nicht, aber eben doch eine thematische, wenn das Thema nämlich die Maßstabsverzerrung ist. Dasselbe Werk – Karien Vervoorts perspective amoureuse – liegt als Bronzeguß in den Abmessungen 5 m x 4,70 m x 1,10 m Höhe in Hoofddorp in Holland. Bis ins riesenhafte gesteigert sind hier vor allem die Schwimmer, die das Netz begrenzen.

Diesen ‚Trick’ finden wir in etlichen von Karien Vervoorts Werken wieder: die Kombination einer maßstabsgetreu wiedergegebenen Sache mit einer maßstabsverzerrten Sache in ein und demselben Kunstwerk. Im Denkmodell Nr. 7 beispielsweise stimmt der Maßstab des Kissens (die Irritation liegt für uns hier allerdings dann im Material, das Kissen ist aus Beton). In der perspective amoureuse ist es die Netzstruktur, die stimmt, im Denkmodell Nr. 8 der weitschwingende Damenrock, den Karien Vervoort ihrem kleinen Architekturmodell genäht hat. (Das kleine Architekturmodell kann freilich auch eine stark vergrößerte Hutmutter sein. Wir kennen das Spiel mit der Maßstäblichkeit aus den Naturwissenschaften, wo ein Atommodell früher genauso aussah wie ein Planetenmodell – beides aus seiner unfassbar kleinen bzw. unfassbar großen Dimension aufs menschliche Maß gebracht. – Vgl. auch die Theorie der Fraktale) Der maßstabsgetreue Teil eines Werks legt bei Karien Vervoort gewissermaßen das Nullniveau fest, bringt das Werk aufs menschliche, gewohnte Maß und macht es kenntlich. Der verzerrte Teil irritiert und lenkt den Blick darauf, wie Kai Uwe Schierz festgehalten hat, „daß unser Realitätsbezug gerichtet ist, d.h. subjektiven Perspektiven von je bestimmten Standpunkten aus folgt, die durch kulturelle Paradigmen (im weitesten Sinne) geformt werden und diese auch weiter ausformen. Es gibt für uns also keine Möglichkeit des Zugangs zur Welt ‚an sich’ [...]; sie erscheint uns vielmehr stets in der Form einer ‚Welt für uns’“. Soweit Kai Uwe Schierz anlässlich der Ausstellung Karien Vervoorts in der Kunsthalle Erfurt im Sommer 2008.

Die Mittelbarkeit, mit der unsere Möglichkeiten der Erkenntnis uns Zugang zur Welt verschaffen, stellt uns die „Eindreiheit Nr.1“ unten in der Stadt vor dem Schillerhaus besonders sinnfällig vor Augen. Im Relief einer Eisenplatte erkennen wir Bilder unserer fünf Sinne: ein einzelnes Auge, ein Ohr, einen Löffel ohne Stiel – er symbolisiert unseren Geschmackssinn – eine Blume für den Geruchssinn. Wir sehen keine Hand. Für den Tastsinn wie auch für die Kommunikation steht eine Computermaus. Das ist schon sehr kulturkritisch und pessimistisch – aber sicherlich gut beobachtet. Auch einen Fußabdruck vermissen wir. Es ist nur eine Schuhsohle, die wir sehen, den Bodenkontakt haben wir in den Augen Karien Vervoorts offenbar verloren. Gehen wir um die sechseckige Stele herum, so finden wir eine durchbrochene Seite sowie eine dritte Seite mit einem Sehschlitz. Hierdurch sehen wir entweder die Außenwelt der gegenüberliegenden Seite – also einfach durchs Kunstwerk durch – oder aber wir begegnen uns selbst. An der Innenseite gegenüber ist ein Spiegel angebracht. „Gnoti seauton“ – erkenne dich selbst, war dem Apollotempel in Delphi eingemeißelt, und der Spiegel ist in Mythologie und Märchen das Zauberwesen zur Selbst- und Welterkenntnis. So ist der Eisenplatte, die unseren bewussten Zugang zur Welt auflistet, die Dimension des Unbewussten einerseits sowie die göttliche Dimension der Selbsterkenntnis und des wahren Weltzugangs beigegeben.

 

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar