Text aus der Katalog: Thüringer Biennale der Gegenwartskunst - SKULPTUR 

Dr. Ingrid Maut, 1997

 

„Denkmodelle“ nennt Karien Vervoort einige ihrer wichtigsten Arbeiten, sie sind kompakt und wirken monumental, obwohl sie höchstens 60 cm hoch sind.

Die Motive sind einfach, sie sind entlehnt aus den Dingen, mit denen wir täglich umgehen. Das können Schranktüren oder Tische sein. Die Sicht auf die Dinge ist neu, denn der Maßstab wurde verändert. Verschiedene Standpunkte werden einkalkuliert, mal stehen die Objekte auf hohem Sockel, ein andermal auf flachem Boden. Gleichartige Formen, aber in unterschiedlichen Größen, werden über- oder gegeneinander gestellt. Die räumliche Ordnung ist nachvollziehbar und meist symmetrisch angelegt. Es entstehen Räume und Durchblicke, aber nie ist das Ganze auf einen Blick erfassbar. Erst im Umschreiten erschließen sich die Ansichten, es ist wie ein Spiel mit Nähe und Distanzen. Sehweisen werden hinterfragt und sensibilisiert. Gebrauchsformen bekommen eine neue Dimension, erweisen sich mitunter als tragfähig für monumentale Gestaltungen.

Karien Vervoort begann ihren künstlerischen Werdegang in ihrem Geburtsland, der Niederlande. Nach einer eher kunsthandwerklich orientierten Lehre als Gold- und Silberschmiedin studierte sie an der „Gerrit Rietveld Akademie“ Amsterdam Bildhauerei. Ihre Ausbildung war gründlich, sie vermittelte technische Grundkenntnisse und Verarbeitungstechniken für Metall, Holz, Gips und anderen Materialien und bot viele Möglichkeiten für freies kreatives Gestalten. Nach dem Studium erhielt Karien Vervoort staatliche Förderung durch Stipendien und Auslandsaufenthalte.

1994/1995 arbeitete sie als freischaffende Künstlerin in Berlin, seit 1995 lebt und arbeitet sie in Wernburg in Thüringen.

Bereits mit ihrer Examensarbeit 1987 setzte sie sich mit dem Thema des Raumes auseinander, eine künstlerische Aufgabe, die sie bis heute reizt. In ihren Objekten „Niemandsland“ gestaltete sie in unterschiedlicher Anordnung verkleinerte unbegehbare Räume. Immer nur von einer Stelle aus ist

es möglich, das Innere blickmässig zu erfassen. Sie wirken wie enge Korridore, nur ganz hinten besitzen sie eine Lichtöffnung. Von anderen Ansichten ergibt sich ein fast gegenteiliger Eindruck, denn kastenförmige Gebilde versperren den Einblick.

Das Thema des nichtzubetretenen Raumes verarbeitete sie eindrucksvoll in einer großen Metallskulptur, die von der Gemeinde Almere 1990 mitten auf einen Parkweg aufgestellt wurde. Eine Art Gitter versperrt den Weg, doch das Tor ist für Menschen zu klein. Auch das Innere bietet keine Behausung, denn der anschließende Raum minimiert sich wie in einer extrem perspektivischen Verkürzung und endet in einem Lichtviereck. Auch in anderen großformatigen Skulpturen wird dieses Grundthema aufgegriffen. Doch die Raumskulpturen bilden eher Barrieren, real und im geistigen Sinne, denn sie erschließen sich nur schwer und fordern die Mühe der Auseinandersetzung. Seit den neunziger Jahren nähert Karien Vervoort sich ihrem bildnerischen Problem auf ganz gegenteilige Weise. Vierbeinige Tischformen bilden das Grundmodul für eine Reihe von Arbeiten, die aus Bronze gegossen sind. Aufeinander gestellt verlieren sie ihre eigentliche Funktion, der offenen Raum gewinnt an Bedeutung. Spiegelbildlich gegeneinander gestellt entstehen Raumgebilde, die an Architektur erinnern. Später verhüllte sie die stark verkleinerten Tischformen mit Decken, die bis auf den Boden reichen. Die entstandenen Objekte wirken jetzt als kompaktes Massevolumen. Deren Positiv- und Negativformen werden nun in unterschiedlichen Konstellationen auf ihre räumliche Wirkung hin untersucht. Karien Vervoort geht es in ihren Skulpturen um Proportionalität und Maßstäblichkeit. Dabei bemüht sie keine komplizierten Verhältnismäßigkeiten, sondern baut auf sinnliche Alltagserfahrungen auf. Ihre Tischinstallationen „Maßstab 1“ von 1993 und „Maßstab 2“ von 1994 sind geistvolle Metapher dazu.

 

Dr. Ingrid Maut

Maßstab 1993